Ein Friede, höher als alle Vernunft

Ein Friede, höher als alle Vernunft

 

 

Oktober 2019. Ich fahre nach Linstow, an die Mecklenburgische Seenplatte zum Eckhart Tolle Retreat. Ich bin voller Freude darüber, "meinen" Hauptlehrer und seine Frau Kim Eng live und vier Tage am Stück erleben zu können. Ja, ich freue mich auf die Zukunft. Im Hier und Jetzt. :)

 

 

Ich habe jedoch auch viel Widerstand gegen das Autofahren, vor allem auf der Autobahn. Ich habe mich aus pragmatischen Gründen bewusst gegen die Anreise mit dem Zug entschieden. Eine weiterer Aspekt war auch, der Angstvermeidung keinen Raum zu geben. Denn: ich empfinde Angst. Nicht nur im Flugzeug, sondern auch im Auto. Keine Panik, sondern Angst, meist eher latent. Aber leicht entflammbar. Angstvolle Gedanken, um genau zu sein. Angst  vor einer möglichen, dramatischen Zukunft: Unfall auf der Autobahn, Tod..., mein armer Sohn. DRAMA. Mein Verstand liefert mir passende Bilder. Emotionen werden davon in Bewegung gesetzt, eine unheilvolle Kettenreaktionen kommt in Gang. Das Ego freut sich einen Ast, das mal wieder ein Drama konstruieren kann. Das uralte Spiel.

 

 

Ich bemerke dies.  Bevor ich losfahre, verbinde ich mich also bewusst mit dem JETZT, dieses Mal über das Tor meines inneren Körpers. Sofort entspanne ich mich und kann gelassener losfahren. Habe sogar singend mit Tori Amos direkt etwas Spaß auf der Autobahn. Immer wieder während der 255 km lasse ich meine Anspannung- nachdem ich sie an- und erkenne- wieder los. Atme bewusst, spüre die Hände auf dem Lenkrad, meine Füße an den Pedalen, bin im JETZT.

 

 

Kurz vor dem Ziel auf der Landstraße jedoch geschieht das, was mein Verstand mir bereits oft als Horror-Fantasie geliefert hat. Ich fahre mit 80 durch einen schönen Wald, es ist hügelig. Ich freue mich. Gleich bin ich da. Nur etwas in dem Bild vor mir stört: hinter dem nächsten Hügel kommt mir nicht nur ein LKW auf der Gegenspur entgegen, sondern auch ein dunkles Auto mit viel PS auf meiner Spur, in kurzer Entfernung. Nicht umsonst ist da eine durchgezogene Linie. Ich kann nicht ausweichen, es ist eng. Alles vollzieht sich in nur wenigen Sekunden, dem endlosen JETZT.

 

 

Und plötzlich ist da ein Friede und eine Klarheit in mir, die nichts mit einfachen Emotionen und Denken, sondern mit der Wahrheit zu tun haben. Das Denken setzte zuvor kurz komplett aus. Was für ein Frieden! Um mir wenig später mitzuteilen: ok, wenn der jetzt nicht endlich gleich fertig ist mit dem Überholen, war es das mit dir. Ich fühle jedoch keine Angst, nur einen großen, weiten Raum, in dem geschieht, was gerade geschieht. Und ich bin das beobachtende Bewusstsein. Ich gebe mich der Situation hin, gehe natürlich vom Gas, denn ich hänge an meinem Leben, sende ein kurzes Stoßgebet aus, bin jedoch für alles offen, was kommt. Ich nehme das JETZT voll und ganz an. Adrenalin flutet meinen Körper. Die Zeit scheint still zu stehen. Das dunkle Auto beschleunigt weiter und überholt endlich, nur knapp vor mir ist er wieder auf seiner Spur.

 

 

Und dann erst kommt die Angst und die Wut auf den Fahrer, fließt in Wellen durch mich hindurch. Mein Kopf kommentiert: du wärst eben vermutlich fast gestorben! Bei der der Geschwindigkeit wärst du jetzt Matsch! Mit Herzkrasen und schwitzend komme ich im Hotel an. Atme, lasse die  Emotionen und das Adrenalin durch meinen Körper rauschen. Halte nichts fest. Jetzt ist Jetzt. Erkenne, wie die Gedanken meine Emotionen und das Leiden erschaffen und immer wieder neu entflammen.

 

In meinem Zimmer angekommen liege ich immer noch etwas durch den Wind auf dem Bett und schaue aus dem Fenster. Das Kreuz des Fensters liegt auf diesem Blickwinkel genau vor einem Baum. Etwas daran fasziniert mich, ich mache ein Foto. Der Baum schmiegt sich perfekt hinter das Kreuz. Etwas in mir gerät ins Klingen. Das Bild "spricht" zu mir, ohne dass ich es zunächst verstehe.

 

In Eckharts ersten Talk an diesem Abend spricht er dann über das Kreuz als Symbol. Im Christentum steht es sowohl für das Leiden und Sterben Christi als auch für die Erlösung und Auferstehung.  Wie passend! Denn auch ich habe an dem Tag das erste Mal in meinem Leben dem Tod so direkt ins Gesicht gesehen. Und der Erlösung. Dieses Erlebnis im Auto hat auch mich transformiert, schon vor dem eigentlichen Retreat hat mein "Unterricht" begonnen. Das Konzept des reinen Gewahrseins, dieser endlose Raum, die bewusste Beobachterin in mir, kenne ich schon länger, sowohl in der Theorie als auch in der Praxis. Nie jedoch war die Erfahrung dessen so umfassend, tief und lebensverändernd. Denn seitdem ist nichts mehr wie es einmal war in mir. Dinge, die bis vor kurzem noch total wichtig und viel Leid erzeugt haben, haben an Bedeutung verloren. Und natürlich sind das Dinge, die auf der horizontalen Achse, dem TUN liegen. Mein Leben hat eine ganz neue Tiefe bekommen. Diese Veränderung geschah trotz der äußeren Dramatik in aller Stille und zieht immer noch ihre Kreise in mir. Vieles liegt noch jenseits von Worten.

 

 

Abends, nach dem ersten Talk von Eckhart Tolle, liege ich im Bett und die Angst springt mich wieder an. Die Erinnerung kommt wieder, mein Körper reagiert sofort. Die Gedanken drehen sich im Kreis, kreieren ein Drama. Ich merke, dass ich an einem Scheidepunkt stehe: gehe ich durch die Tür der Angst und lasse es zu, dass sie z.B. dazu führt, dass ich kein Auto mehr fahre? Angst vor der Rückfahrt habe? Und mir das Retreat überschattet? Oder gehe ich durch die Tür der Wahrheit, so wie in dem Moment, als es geschah. Ich wähle an diesem Abend bewusst den Frieden und die Wahrheit. Ich wähle die vertikale Dimension des Lebens, die Tiefendimension des Kreuzes, wie Eckhart sagt. Ich wähle das SEIN. In dem Moment auf der Landstraße war keine bewusste Wahl. Der Moment und das Leben selbst haben mich in die Wahrheit katapultiert. Ich habe mich nur nicht mehr gewehrt, wie zuvor im Alltag bei den kleineren Dramen noch oft.Ich habe mich wecken lassen und von dem süßen Frieden gekostet, der höher ist, als alle Vernunft.

 

Ich habe bereits zuvor von ihm in spirituellen Büchern (nicht in der Bibel, in der kenne ich mich nicht aus) gelesen und ihn auf dieser Landstraße in aller Tiefe erfahren dürfen. Was für ein Geschenk des Lebens!

 

 

Im Netz habe ich dieses Zitat von Dietrich Bonhöffer gefunden:

 

 

"Der Friede Gottes ist ein Friede, der höher ist als alle Vernunft.
… Der Friede Gottes ist die Treue Gottes unserer
Untreue zum Trotz, im Frieden Gottes sind wir geborgen, behütet
und geliebt. Freilich er nimmt uns unsere Sorge, unsere
Verantwortung, unsere Unruhe nicht völlig ab, aber hinter all
dem Treiben und Sorgen ist der göttliche Friedensbogen aufgegangen,
wir wissen unser Leben getragen und in Einheit mit
dem ewigen Leben Gottes, wir wissen, daß der Riß, den wir immer
wieder schmerzlich empfinden müssen, nur ein immer erneuerter
Hinweis darauf ist, daß Gott den Riß geschlossen hat,
daß er uns in sein Leben hineingezogen, so wie wir sind, als
Menschen der Erde, als Menschen mit Herzen und Sinnen, das
heißt in der Sprache der Bibel: mit Leidenschaften und Nöten,
mit dem Eindrücken der Welt befangen..."

 

(https://www.dietrich-bonhoeffer.net/zitat/620-der-friede-gottes-ist-ein-f/)

 

**Es wird keine Haftung für Links übernommen. Foto: Privat

 

 

 

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